Homepage Übersetzung

LIBANON - warum es geschah. Das Rezept eines Bürgerkrieges / 4 Leseproben

Sigrid von Broich (2005)

ISBN 978-3-8334-2149-5

 

S. 65 ff, 171 ff, 147

S. 181 ff (Die schiitische Vorgeschichte des heutigen, anhaltenden  Konfliktes)


 

S. 65 

Die Araber betrachten Zeit in langen Spannen, von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang –Zeit ist für sie gleichbedeutend mit Geschichte. Zeit zählt nur, wenn sie in Epochen gemessen wird: 500 Jahre osmanische Herrschaft, so und so viele Jahrhunderte Blütezeit arabischer Kunst, verteilt über Andalusien und Sizilien. Zeitalter setzten sich aus Generationen zusammen, Epochen aus Leid; neue Generationen entstehen, sie reihen sich wie Perlen auf und bauen zukünftige Paläste aus Zeit, worin, so Gott es will, es sich lohnt, für die Geschichte zu leben.
   Die schnellen Reaktionen der Libanesen bedeuten keineswegs, dass sie in irgendeiner Beziehung ein europäisches Zeitgefühl hätten. Das wird vom Westen missverstanden.
Verabredungen werden nicht getroffen, damit man pünktlich erscheine. Sie taugen, um Ereignisse der jüngeren oder älteren Geschichte zu diskutieren – stets im Rahmen eines größeren Zusammenhanges gesehen. Verabredungen können zu Geschäftszwecken getroffen werden, doch Geschäfte lohnen sich nur, wenn sie zu Wohlstand führen.
   Der Zweck des normalen Lebens besteht jedoch darin, der Zeit Inhalte zu geben. Zeit ist für einen Araber nicht ein Hilfsinstrument für ein Geschäft. Er ist entweder interessiert oder nicht. Es ist das Ziel, das zählt. Der Rest ist nichts als Zeremoniell.
   Araber diskutieren endlos in die Zeit hinein, da alles, was vor und was hinter ihnen liegt, im Zusammenhang mit der Geschichte steht.
   In einer Stadt wie Beirut wird vorzugsweise bei eingeschaltetem Lampenlicht diskutiert, auch am Morgen oder Mittag. Ein Leben in Dunkelheit bedeutet nichts. Die funkelnde Elektrizität in den Kristalllüstern bietet die rechte Beleuchtung, um einen Gast zur Rhetorik eines Gespräches zu empfangen, sich mit ihm die Zeit zu vertreiben, und in dem Gespräch dreht sich alles um Geschichte, da Geschichte ein Teil der Zeit ist. Auch im Sonnenschein des Sommers werden die Vorhänge zumeist nicht nur zugezogen, um kühlenden Schatten zu verbreiten, sondern weil kein Sonnenlicht den gleichen Glitzer wie das flimmernde Spektrum von Kristallleuchtern mit Glühbirnen ausstrahlt.
   In Aschrafiyeh, dem christlichen Ost-Sektor von Beirut, ist die Zurschaustellung von kostbarer Kultur ein Muss. Die Lichter wurden auch am Tage selten ausgeknipst. Wir verbrachten Äonen von Zeit unter den Lüstern.
   Die Maroniten, so beobachtete ich, hatten auch nicht mehr Zeitgefühl als alle anderen Araber, obgleich sie gerne den Eindruck erwecken, dass es falsch, ja, ungerecht sei, sie als Araber anzusprechen. Und wenn keine Araber, was sind sie dann – im Libanon, der an die arabisch-islamische Welt angrenzt?
   Sie sagen, sie seien Maroniten. Und sie fügen hinzu, dass sie die Araber nicht besonders mögen. Sie pflegten noch zu erwähnen, wenn sie dazu gedrängt wurden, dass sie sich als Libanesen fühlten, Libanesen-fast-Franzosen – das bedeutet: Ungefähr-Franzosen …
Unter sich sprechen sie Arabisch, die amtliche Landessprache der Republik Libanon, wechseln aber auch federleicht ins Französische über – sogar im vertrauten Gespräch zwischen Mann und Frau, Vater und Tochter, Mutter und Sohn.
   Die Zeit hat sie mit einer besonderen Aura der Überzeugung ausgestattet, dass sie mindestens bis zum Jahr 3000 die regierende Partei im Libanon bleiben würden, denn ein historischer Zeitraum besteht, so wie sie es auffassen, gewöhnlich aus mehreren Generationen und nicht nur aus einer.
………………


S. 171
   Mit Vehemenz entzog er (Anm.: Walid Dschumblat) sich sowohl auf (Schloss) Muchtara, als auch im Beiruter Stadthaus seines Vaters den politischen Banketten; er weigerte sich, den für ihn vorgesehenen Platz an der jeweiligen Tafel einzunehmen – so geschah es übrigens auch anlässlich des Bankettes zu Ehren des Swami Chinmayananda. Er kam, grüßte und ging.
Allein zu einigen besonderen Gelegenheiten, die ihn reizten, begleitete er seinen Vater: So nach Kairo zu Privatbesuchen bei Präsident Nasser, den er vergötterte.
   Walid Dschumblats Widerstand gegenüber jeglicher Form von Politik brachte seinen Vater zur Verzweiflung – und schließlich zur Resignation. Er gab nach. Walid studierte, wie er es geplant hatte, an der Amerikanischen Universität von Beirut; er wollte Lehrer werden. Tatsächlich ging er diesem Beruf auch eine Weile nach.
   Es gab nur einen Hinweis auf Politik in Walids Nähe. Als er 21 Jahre alt war, zeigte er mir einmal sein Gemach auf Muchtara. Eine Wand war geschmückt mit einer Sammlung antiker Waffen. Als ich jedoch zu der anderen Wand aufblickte, gefror mir das Blut in den Adern. Sie wurde von einem riesigen Gemälde beherrscht, das Adolf Hitler zeigte, wie er auf einem Balkon stand und eine Rede hielt – und darunter, in einiger Entfernung, Menschenmassen, die Adolf Hitler zuhörten …
   Links davon hing ein kleineres Portrait von Nasser…
   Woher hatte Walid dieses Gemälde, das einen Ehrenplatz einnahm, gleich gegenüber von seinem Diwan, über dem ein groß aufgezogenes Foto meiner Kusine Marina hing? Wie war er, um alles in der Welt, daran gekommen? Ein Erbstück seines Großvaters mütterlicherseits, des Emirs Schakib Arslan, aus dessen schweizerischen „Deutschland, Deutschland über alles“-Zeiten, als er intim mit der reichsdeutschen Diplomatie und dem Großmufti von Jerusalem in Berlin umging? Vielleicht ein Geschenk des Großmuftis an ihn – ein Erbstück, das Prinzessin May erhielt und kurz nach dem Tode ihres Vaters mit in die libanesische Ehe nach Muchtara brachte und … dort zurückließ, als sie selbst in ihren unpolitischen „Frieden von Paris“ floh?
   Walid und ich saßen gemeinsam auf dem Diwan und starrten … wortlos … das Hitler-Gemälde an, jeder mit seinen eigenen Gedanken. Mir verschlug es die Sprache.
Dieses Gemälde, wie der ursprünglich vom Nazitum beeindruckte Werdegang des ägyptischen Präsidenten Nasser, von dem er fasziniert war, haben offensichtlich Walid in seiner Haltung nachhaltig beeinflusst. Beide zusammen, in dieser Symbiose, stellten für ihn den ersten eigenständigen politischen Eindruck dar. Der Esprit schlägt sich in seiner Politik nieder.
   Und dies ist einer der vielen großen Unterschiede zwischen ihm und seinem Vater.
………………..

S. 147
   – in Richtung Wald von Aramun, vorbei an der Villa des Muftis.
   Danach hörten wir menschliche Schreie aus der Tiefe der Schlucht, fast schon wie von weit her, aus der Ferne des Jenseits. Sie vermischten sich in mancher lauen Nacht mit den seltsamen, singenden Tönen der Meerkatzen, wie sie genannt wurden, einer Art von „grünen Affen“, die in Höhlen verstreut am anderen, unteren Ende der weiten Schluchten, die sich zur Küste hin senkten, lebten. Diese grauenhaft konzertanten Töne von sterbenden Menschen und lebendigen Affen wirkten, als seien sie aus Äonen aufgestiegen, und nun erhoben sie sich im silbrigen Mondschein zum Himmel, bis sie sich schließlich, an ihrem Ende angelangt, verloren. Und dann war wieder Stille …
   Die Angst schlief von da an in Aramun nicht mehr ein.
..................................................................


S. 181

Wäre nicht etwas dazwischen gekommen, so hätten sich die Dschumblats und die Gemayels vielleicht schon viel früher auf einen dauerhaften Waffenstillstand geeinigt. Sie trafen sich im Parlament, wenn die „Kampfrunden“ die Sitzungen nicht unterbrachen. Ihre weltlichen Lebensarten lagen nicht mehr so weit voneinander entfernt, wie zu Zeiten Kamal Dschumblats. Über die Religionen würde es nie eine Einigung geben – einzig allein einen „modus vivendi“. Beide Seiten wussten, dass sie die Hauptpersonen in diesem Konflikt gestellt hatten. Nun war es an der Zeit, auf dem Parkett der Diplomatie einen Pakt zur ‚Nationalen Einheit’ zu erzielen, für den auch Walid Dschumblat plädierte. Doch ein anderes Ereignis trat ein.

   Im Libanon hatten sich Flüchtlingsströme und Truppenbewegungen an Stelle des einstigen Tourismus ausgeweitet. Nun setzte eine gewaltige, unvorhergesehene Welle der Abwanderung, eine Völkerwanderung, aus dem Süden des Libanon ein – in Richtung Norden. Es geschah, als Israel, verärgert durch die wachsende Anzahl von palästinensischen Attacken aus dem Südlibanon, in das Land einmarschierte.

   Aus Furcht vor Vergeltung und Gefechten, aus Angst um ihr Leben, zog die immer schon arme Bevölkerung dieser Gegend nach Beirut, um Schutz zu suchen. Viele dieser Menschen beschlagnahmten Häuser, Gebäude und Appartements, die, von ihren ins Ausland geflüchteten früheren Bewohnern verlassen, nun leer standen. Beirut jedoch, inzwischen zu mehr als der Hälfte zerstört, sah sich nicht auf solch eine Invasion der Verzweiflung vorbereitet. Geballtes Elend breitete sich von einer Ecke zur nächsten aus. Und Beirut geriet vollends aus dem ehemaligen Gleichgewicht.

   Diese Menschen aus dem Süden waren vornehmlich Schiiten. Die schiitische Religionsgemeinschaft im Libanon besaß zwar einen geistlichen Führer, der jedoch zumeist außerhalb Beiruts, vor allem im Süden wirkte. Er hieß Imam Moussa Al-Sadr, 1928 in der Heiligen Stadt Qum geboren, hatte zunächst Jura studiert, ehe er, außerdem islamische Studien verfolgend, zum Lieblingsschüler von Ayatollah Khomeini aufstieg. Seine Eltern waren dereinst aus dem Südlibanon in den Iran, nach Qum, übergesiedelt. So beherrschte Imam Moussa Al-Sadr Arabisch nicht ur als Sprache des Korans, sondern auch das libanesische Arabisch. Als einer seiner Verwandten, ebenfalls Geistlicher, im Südlibanon verstarb, war für Imam Moussa Al-Sadr der Augenblick gekommen – und als kurz darauf, 1963, Ayatollah Khomeini auf Veranlassung des Schahs von Persien in der Heiligen Stadt Qum verhaftet und ein Jahr später ins ausländische Exil, zunächst in die Türkei, verjagt wurde, um sich alsdann in den Irak zu begeben, blieb Imam Moussa Al-Sadr in enger Verbindung mit ihm und hielt die Hände im Spiel.

   Moussa Al-Sadr hatte sofort nach seiner Ankunft im Libanon erkannt, welche Probleme unter der mit Edelsteinen bestückten Brokatdecke der Schönen namens Beirut heranwuchsen. Er sah auch die Laster. Er stammte aus der theologischen Schulrichtung von Qum, deren Hauptziel es ist, „den Satan zu bekämpfen“. Imam Moussa Al-Sadr wusste, wie schwach die Position der Schiiten im Libanon war. Er rief den Hohen Geistlichen Rat der Schiiten ins Leben und schälte ihn somit aus dem allgemeinen Hohen Islamischen Geistlichen Rat heraus. Dennoch ging er diplomatisch vor, ohne sich zu Anfang zu sehr in den politischen Vordergrund zu drängen. Außerdem fehlten ihm dazu die Mittel, die Finanzspritze von außen – an Subventionen aus der Heiligen Stadt Qum war jedenfalls nicht zu denken, der Schah exerzierte ein vornehmlich säkularisches Regime und befand sich in einem noch von seinem Vater Schah Resa Pahlawi ererbten, persönlichen Konflikt mit den Mullahs von Qum, und in Bagdad herrschte das Militär. Die minderbemittelte schiitische Gemeinde des Libanon verblieb, wie sie war – und wo sie war. Man nahm kaum Notiz von ihr im Land, in dem nur eines zählte: Reichtum/Luxus/Show off.

   Bereits zu Anfang seiner Tätigkeit im Libanon gründete Imam Moussa Al-Sadr eine Bewegung, durch die die „vergessenen“ Schiiten näher aneinander herangeführt werden sollten. Diese Vereinigung des Zusammenschlusses nannte er „Amal“ – das bedeutet im Arabischen: „Hoffnung“. In den christlichen Lagern wurde sie kaum beachtet.

   Indessen hielt sich sein Meister, Ayatollah Khomeini, im Irak in der Heiligen Stadt Nadschaf auf, wo er insgesamt vierzehn Jahre des Exils verbringen sollte – eine Epoche vieler Ereignisse, in der er die iranische Revolution vorbereitet. Nadschaf gilt als die Hauptstadt des Schiitenreiches; die wurde Ali, der Schwiegersohn des Propheten, gleichzeitig Begründer der schiitischen Abspaltung von der Religion des Gesetzes, der Sunna (es ging bei dem Konflikt um das Kalifat), erschlagen und an einer Stätte beigesetzt, über der die Gläubigen die Imam-Ali-Moschee errichteten. Nadschaf gilt als der sensibelste Ort der Schiiten, ein Ort, an dem die chronometrische Zeit seither stillsteht. In Nadschaf geht es nur um die Auslegung der schiitischen Weisheit des Islams und um ihre Anwendung und die Verwirklichung ihrer weit gespannten Ziele. Der religiöse Führer von Nadschaf in jenen Jahren, die der verbannte Ayatollah Khomeini dort zubrachte, war ein junger Geistlicher, 1936 geboren, zu allem entschlossen, auch zum Märtyrertod, der in Anlehnung an die theologische Ausrichtung der „Schule von Nadschaf“ nur einen einzigen Traum verfolgte: im Irak einen Gottesstaat zu errichten und diesen über die ganze Welt auszudehnen. Als sein Gast, Ayatollah Khomeini, sich im dritten Jahr in Nadschaf befand, 1968, kam im Irak die Baath-Partei an die Macht und griff energisch gegen diese für ein säkulares Regime äußerst gefährlichen Bestrebungen durch. Todfeindschaften entstanden. Die Weltlichen liebten das irdische Leben, die Geistlichen unter den schiitischen Fanatikern das belohnte Leben im Paradies durch den Märtyrertod. Der junge Geistliche aus Nadschaf namens Ayatollah  Mohammed Bakir Al-Sadr verließ für eine Weile Ayatollah Khomeini, an dessen langwierigem Konzept für die Iranische Revolution und den Iranischen Gottesstaat er mitwirkte, und flüchtete aus Sicherheitsgründen in den Libanon – zu seinem Vetter Imam Moussa Al-Sadr. Später kehrte er in den Irak, nach Nadschaf, zurück.

   Der schmucke, behände Imam Moussa Al-Sadr entwickelte sich, je besser er den Libanon kannte, desto mehr zu einem glänzenden Prediger. Als der Bürgerkrieg im Frühling 1975 ausbrach, wurde seine Stimme von der Glut des Feuers, die nun schwelte, angeheizt: Entsetzt über die Geschehnisse, rief er schon wenige Wochen später in einer Moschee zum Hungerstreik auf, um das mörderische Treiben zu beenden und das Land zur Besinnung zu bringen … Er plädierte sogar auf der öffentlichen Plattform für einen Ausgleich unter den Religionen. Seinen Schiiten spendete er Trost, soweit er konnte. Tagelang sprach man in Beirut von nichts anderem als Imam Moussa Al-Sadr. Doch sein Hungerstreik zeigte nicht lange Wirkung. Er unternahm eine Reihe von Auslandsreisen, um die Welt auf den „Wahnsinn“, der im Libanon anhob, aufmerksam zu machen. Moralische Unterstützung fand er nur bei einigen Seiten – in Saudi-Arabien, Ägypten. Finanzielle Hilfe erhielt er jedoch aus Libyen –  pro Jahr in zweistelliger Dollarmillionenhöhe, wie Berichte besagen.

   In Beirut selbst hatte Imam Moussa Al-Sadr einen zivilen Mitstreiter in der Person eines schiitischen Anwaltes namens Nabih Berri gefunden, eines Mannes von brillantem Geist, der ihn seit langem unterstützte. Nabih Berri war nicht in den Luxusvierteln Beiruts geboren, sondern in Sierra Leone, wo er schon genügend Elend gesehen hatte. In der Folge des Bürgerkrieges organisierte sich „Amal“ mehr und mehr durch seine Hand, entwickelte sich zur Miliz und schlug sich zwangsläufig auf die Seite des drusisch-moslemisch-palästinensischen Lagers, doch besaß diese Miliz zunächst noch keine den christlichen Kontrahenten gleichwertige Ausrüstung. Die Vorstädte der Schiiten im Süden Beiruts wurden bei den aufflammenden Kämpfen schwer in Mitleidenschaft gezogen.

   Noch immer war für die Minderheit der libanesischen Schiiten keine Hilfe aus dem Ölstaat Iran zu erwarten. Fast drei Jahre nach Ausbruch des libanesischen Bürgerkrieges, 1978, verließ Ayatollah Khomeini sein Asyl an den heiligen Stätten des Irak, als er dort nicht mehr willkommen war. Immer schärfer ging die Baath-Partei gegen ihre sich gegen den säkularen Staat auflehnenden Widersacher, die religiösen Führer im Irak, vor. Khomeini begab sich für einige Monate in ein neues Exil: nach Frankreich, nach Paris. Ohne den im Libanon tobenden Bürgerkrieg wäre er wahrscheinlich dort erschienen – wie einst der Großmufti von Jerusalem … Im Iran indessen begann bereits die von Khomeini, Mohammed Bakir Al-Sadr und anderen eminenten Helfern in Nadschaf vorbereitete und vermittels der Fäden von Nadschaf eingeleitete Revolution.

   1978 war auch das Jahr des israelischen Einmarsches in den Südlibanon, wobei sich die schiitischen Flüchtlingsströme nach Beirut ergossen. In jenem Sommer erhielt Imam Moussa Al-Sadr eine Einladung von Libyens Staatschef Muammer Gaddafi, dem Sunniten, zu einem offiziellen Besuch nach Tripolis. Er nahm sie voller Hoffnung an und ließ sich von einem seiner Adjutanten und einem libanesischen Journalisten begleiten. Brütende Hitze lag über Libyen, als sie Ende August dot eintrafen. Es heißt, dass Präsident Gaddafi Imam Moussa Al-Sadr tatsächlich empfing. Es heißt sogar, dass Gaddafi dem Imam erhebliche Vorwürfe gemacht habe, die libyschen Subventionsgelder anstatt für den Umsturz der Christen im Libanon zu verwenden, in die Vorbereitung der iranischen Revolution des Ayatollah Khomeini investiert habe. Imam Moussa Al-Sadr konnte sich dazu in erweitertem Kreis nicht mehr äußern. Die drei Staatsgäste von Präsident Gaddafi kehrten von dieser Reise nie mehr zurück. Sie wurden während der offiziellen Visite entführt. Keinem noch so diplomatischen Kanal gelang es jemals, Genaues über ihr Schicksal zu erfahren. (Erst im Juli 2004, nach 26 Jahren unermüdlichen Bemühens, haben die Familien der Entführten offiziell Anklage gegen den libyschen Präsidenten und siebzehn seiner Funktionäre, darunter den ehemaligen Botschafter im Libanon, erhoben – jedoch in Ungewissheit, ob den achtzehn Angeklagten de facto im Libanon der Prozess in Abwesenheit gemacht werden kann … Sprachrohr für den Imam ist dabei vor allem seine Schwester, die ihm in der ersten Hälfte der 1960er Jahre aus Qum in den Libanon gefolgt war und nun in Form einer Stiftung eine breit angelegte Wohltätigkeitsgesellschaft führt.)

   Das mysteriöse Verschwinden des Imam Moussa Al-Sadr und seiner beiden Begleiter empörte und beunruhigte die schiitische Minderheit im Libanon über alle Maßen. So hatte sie in ihrer allgemeinen Not noch ein weiteres Leid zu beklagen: den Verlust ihres geistlichen Vorbildes. Nabih Berri, der Advokat, übernahm von nun an die Führung.

   Wenige Monate nach dem unaufgeklärten Vorfall von Libyen wurde in Persien der Schah gestürzt. Ayatollah Khomeini kehrte in den Iran zurück, übernahm die Macht und verwandelte den mühsam modernisierten, säkularen Staat in sein anderes Extrem: den Gottesstaat. Mit seinem Lieblingsschüler Moussa Al-Sadr konnte er sich allerdings nicht mehr in Verbindung setzen. Und auch nicht mehr lange mit dessen Vetter in Nadschaf, der sich neben einigen anderen Geistlichen offen zur Iranischen Revolution und dem Wert eines Gottesstaates bekannte. Die Gesetze dafür hatte er bereits in Schriften niedergelegt. Ayatollah Mohammed Bakir Al-Sadr wurde noch im gleichen Jahr 1979 in Nadschaf unter Hausarrest gestellt, 1980 im Auftrag von Saddam Hussein gemeinsam mit seiner Schwester verhaftet und drei Tage später in Bagdad ermordet. Von seiner Schwester fehlt jede Spur. Doch hinterließ Ayatollah Mohammed Bakir Al-Sadr in Nadschaf einen Sohn, der in seine Fußstapfen getreten ist und das geistige wie geistliche Erbe seines Vaters weiterführt, mit den Schlüsseln zur Imam-Ali-Moschee in der Hand: den jungen Imam Muktada Al-Sadr …

   Nachdem Ayatollah Khomeini begonnen hatte, die Macht über den Ölstaat Iran auszuüben, erweiterte sich die libanesische „Amal Miliz“ zu paramilitärischen Verbänden, einer Kampftruppe mit Ausrüstung. Den Höhepunkt ihrer Stärke erreichte sie in den Jahren 1980-1983. In diese Zeitspanne fallen auch die Gefechte im Schuf und der israelische Vormarsch bis nach Beirut – Gefechte, bei denen sich schließlich nicht mehr allein libanesische Kampfgruppen plus Palästinenser gegenüberstanden, sondern zusätzlich Israelis und Syrer. Ein Ort wie Aramun wechselte mehrfach den Besetzer.

   So verlagerte sich unvorhergesehen das Bild der Schiiten im Libanon. Ihre Macht stieg aus dem Elend herauf, sie waren nun nicht mehr zu übersehen. Aus ihrer Bewegung keimten neue Äste, die sich noch mehr radikalisierten – wie, zum Beispiel, „Hisbollah“. Dies ging Hand in Hand mit der zunehmend erwachenden Renaissance des Islams in der arabischen, wie in ihrer Gesamtheit der nah- und mittelöstlichen Welt – und weit darüber hinaus …

   Noch ahnte niemand, dass nach Beendigung des libanesischen Bürgerkrieges Nabih Berri als Führer der „Amal“-Partei – nach dem ungeschriebenen Gesetz der Republik Libanon, das dieses Amt einem Schiiten vorbehält – zum Parlamentspräsidenten ernannt werden würde, während die anderen hohen Ränge und Ministerämter den Söhnen, Neffen oder Schwiegersöhnen der einstigen Kontrahenten aus den stets gleichen Clans zufielen und gelegentlich auch einem Neuling.

   Doch bis dahin sollten noch viele Jahre des Bürgerkrieges über den Libanon dahinziehen.